Der ganze geile Shit

Illustration by Andrea Vollgas, @vollgasstudio

Story: Sandra Wurster (sie/ihr)

@bauchfrauen

Mein Name ist Sandra Wurster. Ich bin die Gründerin der Selbst- und Körperliebe-Plattform “Bauchfrauen” aus Deutschland. Ich mache alles, was mein Herz zum Tanzen bringt und das ist vor allem, andere Frauen daran zu erinnern, dass ihre grösste Problemzone ihre Gedanken sind.

Wenn wir uns begrenzen und meinen, dass wir eine Kleidergrösse sind oder der Umfang unseres Bauches, unserer Brust oder was auch immer, werden wir nie unser ganzes Potential erwecken oder erkennen können.

Mich macht sehr vieles aus: meine Verletzlichkeit, genauso wie meine Lebendigkeit, mein schnelles Reden, meine Energie. Meine Energie macht mich am meisten aus, das bekomme ich von anderen immer wieder als Rückmeldung oder ich werde in Interviews gefragt, warum ich so viel Energie habe. Dann stelle ich sehr gerne die Rückfrage, warum andere diese Energie nicht besitzen. Ich glaube, dass Menschen nicht verstanden haben, warum wir erschöpft oder müde sind. 

Es liegt nicht daran, dass wir zu viel tun. Es liegt höchstwahrscheinlich daran, dass wir zu wenig von den Dingen tun, die unser Herz zum Tanzen oder zum Explodieren bringen.

Meine Körpergeschichte

Ich und mein Körper haben wahnsinnig viele Geschichten erlebt. Am Anfang steht das Wachstum des Kinderkörpers, als ich sehr wenig über meinen Körper nachgedacht habe. Als kleines Kind nahm ich meinen Körper viel mehr als ein Instrument wahr, um meine innere und äussere Welt zu verbinden.
Dann kam die Pubertät und ich war wahnsinnig fokussiert auf meinen Körper, weil mir meine Umwelt mir ständig mitgegeben hat, dass ich abnehmen müsse, dass ich doch ein hübsches Gesicht hätte.
Wenn ich das mit heute vergleiche, war ich damals sehr im Mangel und diese Energie war so krass. Es war das Wichtigste für mich, dünn und schön zu sein. 

Wenn jemand gesagt hat, ich sei dumm, dann war das keine Beleidigung für mich. Aber zu hören, dass ich hässlich oder dick sei, das war das Schlimmste.

Dann kam eine ziemlich lange Phase des Selbstbetrugs, in der ich immer mal wieder Diäten gemacht und dann wieder meine Kurven gefeiert habe. Ich habe meinen Eltern widersprochen und gesagt, ich steh’ zu mir. Ich habe aber festgestellt, dass dies nicht stimmt. Es war eine Phase des Erwachens, in der mir klar wurde: Es ist wichtig, dass ich ehrlich zu mir selbst bin. 

Mir wurde der Schmerz und der Selbstbetrug bewusst, den ich jahrelang aufrecht erhalten hatte, weil ich glaubte, so sein zu müssen, wie andere mich gerne hätten.

Ich wusste, ich ertrage es langfristig nicht, dass ich leer bin, dass ich mich nicht finde in mir. Diese Zeit der Zurechtfindung dauerte bei mir etwa von 23 bis 27.
Danach hatte ich eine sehr schöne Phase, in der ich dachte: Wow, ich bin der Selbstliebe und mir ganz nah, diese Geschichte mit meinem Körper war toll. Ich fühlte mich wahnsinnig gut. 

Der Blick in den Spiegel zeigte mir: Ich bin toll und ich bin mehr als mein Körper. Ich sah nicht mehr nur die Form im Spiegel, ich konnte meine ganze Energie darin wahrnehmen.

Jetzt bin ich 30 und ich beginne gerade zu erkennen: Wow, die Brüste sind nicht mehr da wo sie waren, Falten entstehen, ich bekomme ein paar graue Haare. Wie gehe ich damit um? Ich spüre einen kleinen Abschiedsschmerz, den jungen Körper von früher zu verabschieden, was auch in Ordnung ist und sein darf. Ich bin gespannt, wie ich mit Veränderungen und dem Altern meinen Frieden schliesse. Den habe ich zum grössten Teil, aber ich bemerke, dass es trotzdem ein Thema ist.

Ich erinnere mich an diese reine, totale Fülle-Energie als Kind, wo ich mich fühlte und mich darauf freute, was ich auf dieser Welt entdecken kann, die kleine Abenteurerin quasi. Das war so mächtig und ich weiss nicht, ob das mein Ziel ist, aber da versuche ich immer mehr hinzukommen. Ich habe für mich verstanden, dass mein Körper auf jeden Fall mein Zuhause ist und dass ich mein Zuhause gut pflegen möchte und liebe. Gleichzeitig möchte ich mich vom Ego-Anteil befreien. 

Mein äusseres Erscheinungsbild ist das Uninteressanteste an mir.
Der ganze geile Shit beginnt im Inneren. 

Das hilft mir sehr, mich vom alten Bild zu lösen. Ich möchte mich wahnsinnig gerne ungeschminkt fühlen und erleben, merke aber immer noch krass, wie viele Reaktionen darauf von aussen kommen: “Bist du krank, bist du nicht gut drauf, bist du traurig?”
An manchen Tagen macht mir das etwas aus und daran arbeite ich gerade.

Body Respect

Body Respect bedeutet für mich ein neues Bewusstsein und dass den Leuten klar wird, dass sie bisher nicht respektvoll über Körper reden, urteilen oder mit Körpern umgehen in unserer krassen Diätkultur.

Ich glaube, der Wandel zu einer neuen Kultur von Body Respect ist nur bei jedem einzelnen möglich. Klar könnte man Regeln oder neue Gesetze machen. Ich würde es interessant finden, wenn der Staat uns unterstützt. Ich würde mir wünschen, dass es üblich ist, unterschiedliche Sitzmöglichkeiten anzubieten in Restaurants, Bars und Co. Dass Menschen mit grossen Körpern sich darüber keine unnötigen Gedanken mehr machen müssten. Es ist ja auch völlig legitim, dass unterschiedlich grosse Hunde unterschiedlich grosse Körbchen benötigen. Man zwingt ja einen Labrador auch nicht in das Körbchen eines Dackels. Solche Gedanken sind bei den Menschen einfach noch nicht angekommen.

Es braucht auch Ergänzungen und Unterstützung vom Staat und ein anderes Bewusstsein, auch von Ärzt:innen, die sich klar werden müssen, dass sie totale Vorurteile gegenüber Fett haben.
Jeder sollte sich selbst bewusst werden und merken, wie krass wertend seine eigene Sprache ist und wie grosse Vorurteile wir gegenüber Menschen mit unterschiedlichen Körperformen haben.

Ich wünsche mir vor allem, dass dies früher thematisiert wird und zwar bereits im Kindergarten. Das wird auch schon gemacht, aber es ist sehr interessant zu beobachten, dass vor allem Kinder und junge Mädchen ihre Mütter extrem nachahmen. Fast jede zweite oder dritte Frau in Deutschland hat ein gestörtes Verhältnis zum Thema “Essen”. Das macht sich bei den Kindern bemerkbar und dazu braucht es mehr Aufklärungsarbeit in Schulen.

Ich glaube, wir können Body Respect nur vorleben. Man kann andere nicht zwingen oder mit Absicht inspirieren.

Ich glaube, man kann nur versuchen, seine innere Wahrheit vorzuleben. Wenn das bei jemandem auf Resonanz stösst, dann kann man sich glücklich schätzen. In diese Richtung zu gehen, ist sehr spannend.

Ratschläge

Ich würde jüngeren Menschen mitgeben, dass sie hingucken und überprüfen, womit sie sich füttern. Ich meine damit nicht essensmässig, sondern feinstofflich betrachtet. Welche Gespräche führst du? Welche Serien ziehst du dir rein? Welche Bücher und Magazine schaust du dir an? Welchen Accounts folgst du?

Ich glaube, dass jungen Menschen das Bewusstsein fehlt für diese Power-Kraft der Eigenverantwortung, was auch völlig verständlich ist. Ich habe auch sehr lange gebraucht, um das zu verstehen. Wenn ich mir ein Magazin kaufe, das ständig nur dünne Menschen präsentiert und nur ein gewisses Bild zeigt, in dem ich mich nicht repräsentiert fühle, ist es klar, dass ich dann daran zweifle, ob ich richtig bin, wie ich bin. Klar frage ich mich dann, ob ich dazugehöre und ob meine Vielfalt wichtig ist. Deshalb würde ich jungen Menschen ganz stark raten, sich mit dem Thema Eigenverantwortung und Medien auseinanderzusetzen. Auch an Schulen sollte das noch mehr thematisiert werden.
Ich kann so viel Selbstliebe und Persönlichkeitsentwicklung betreiben, wie ich möchte, der gesellschaftliche Druck und die Medien haben ihren Einfluss. Doch genau dort fängt es an. 

Wer sagt denn, wie viel Einfluss etwas auf uns haben muss? Wo können wir uns selbst noch besser abgrenzen?
Wenn uns das bewusst wird, bemerken wir erst, wie machtvoll wir alle sind.

Sandra Wurster findest hier:
Instagram: @bauchfrauen
Website: bauchfrauen.com 
Podcast: „Bauchgeflüster“ auf Spotify
Bücher: „Das Leben ist zu kurz, um den Bauch einzuziehen“ (Trias)
„Wahre Schönheit ist der Mut, du selbst zu sein“ (ab Januar 2022 bei Groh)


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